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Zuhause sein in der Fremde

«Weisst du, es ist kalt hier in der Schweiz» So höre ich es oft, wenn ich mit Migrant/-innen rede und sie frage, wie es ihnen hier bei uns geht. Ja, kann ich verstehen, dass wir meteorologisch gesehen in kälteren Gegenden leben als viele der Menschen, die aus dem globalen Süden oder dem Nahen Osten zu uns in die Schweiz gekommen sind.

Doch wenn wir uns etwas näher kennen, vernehme ich noch mehr: «Weisst du, es ist kalt hier, die Menschen sind meist freundlich, aber distanziert. Man spricht auf der Strasse oder in einem Geschäft nicht spontan miteinander. Im Zug setzt sich jeder möglichst allein in ein Abteil. Es kommt nicht zu einem Gespräch.» «Ah, du meinst, dass du das soziale Leben hier als kühl erlebst?» Meistens nickt das Gegenüber dann. Viele von ihnen gehen in Sprachkurse um Deutsch zu lernen und haben Schwierigkeiten irgendwo Leute zu finden, die ihnen helfen, die Sprache auf ganz einfache Art zu üben.

Was braucht es, um an einem fremden Ort, mit einer schwierigen Sprache, wo keine bekannten Gesichter sind, heimisch zu werden? Vielleicht hast du selbst schon einmal ein paar Monate in einem anderen Land gelebt, ein Praktikum oder einen Einsatz gemacht? Was war dort cool für dich? Vielleicht das Zusammensein mit anderen Ausländern? Oder waren es gute Erlebnisse mit einer Gruppe von Leuten vor Ort? Meist wird solch ein Einsatz von der einheimischen Bevölkerung geschätzt. Anders geht es Menschen aus dem Süden oder Osten, wenn sie wegen grossen Problemen – Krieg, Dürren, wirtschaftlichen Krisen, politischer oder religiöser Verfolgung – aus ihrem Heimatland geflüchtet sind. Sie kommen hier an und werden nicht erwartet, ja sie gelten oft als unerwünscht. Es ist happig, zusammengepfercht in einer Asylunterkunft mit Leuten aus verschiedensten Kulturen zu leben, vom Migrationsamt zu den Fluchtgründen interviewt zu werden und monatelang auf die Antwort des Asylantrages warten zu müssen. Oft sind da noch Sorgen um zurückgebliebene Familienangehörige und traumatische Erlebnisse im Herkunftsland oder auf der Flucht.

Wie kann man so in der Fremde heimisch werden?
Immer wieder erlebe ich, was junge und ältere Migrantinnen und Migranten schätzen, was sie aufstellt und ihnen Kraft gibt, um sich hier einleben zu können: Freundliche Menschen, die Geduld haben und langsam Hochdeutsch reden in kurzen, einfachen Sätzen. Menschen, die sie nicht ausfragen, warum sie hierhergekommen sind, sondern ihnen auf Augenhöhe begegnen und die ganz einfache Frage stellen: Wie geht es dir? Oder: Wie geht es deiner Familie? – ob hier oder im Heimatland. Ein offenes Ohr, das zuhören kann, ist Gold wert. Die Menschen aus dem Süden und Osten kommen meist aus Kollektivgesellschaften. Sie sind stark geprägt von einem Wir-Bewusstsein und sind selten allein. Im Gegensatz zu uns, der Individualgesellschaft, die stark geprägt ist von einem Ich-Bewusstsein[1].

J., ein junger Mann aus Eritrea, erzählte mir, was für ein Glück er ziemlich bald nach seiner Ankunft in der Schweiz erlebte, als eine Schweizer Familie ihn für ein paar Monate bei sich aufgenommen hat. J. ist Christ und diese Gastfamilie lebt ebenso im christlichen Glauben. Er habe bei ihnen soviel über die Schweiz und das Leben hier gelernt und sie hätten ihm geholfen, Deutsch zu reden, den Anschluss an eine Schule und Vorbereitungen für einen Studienplatz zu erhalten. Auch habe er durch sie erfahren, wie Christen, die Jesus nachfolgen in Familie und Gemeinde – in Jugendgruppe, Hauskreis und Gottesdienst – leben. Er hat diese Zeit als Schlüssel erlebt sich in der Schweiz integrieren zu können und sich hier zu Hause zu fühlen. Menschen, die bereit sind ihr Leben und ihren Glauben mit dem Nächsten – auch dem Fremden – zu teilen, machen Heimat aus. Das habe ich selber in einem mehrjährigen Einsatz im Ausland erlebt und das höre ich immer wieder von Menschen mit Migrationshintergrund. Hat nicht Jesus in Matth. 25, 34-36 gesagt: «Kommt her! Euch hat mein Vater gesegnet! Nehmt das Reich in Besitz, das Gott seit der Erschaffung der Welt für euch vorbereitet hat. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben. Ich war durstig, und ihr habt mir zu Trinken gegeben. Ich war ein Fremder, und ihr habt mich als Gast aufgenommen. Ich war nackt, und ihr habt mir Kleider gegeben. Ich war krank, und ihr habt euch um mich gekümmert. Ich war im Gefängnis und ihr habt mich besucht.»

«Gott liebt dich» zu sagen, reicht nicht!

Yassir Eric ist ehemaliger Islamist aus dem Sudan und heute Theologe in Deutschland und Leiter des Europäischen Instituts für Migration, Integration und Islamthemen. Er sagte an der together21-Konferenz 2021 in Biel: «Es klappt einfach nicht, wenn wir Migranten und Muslimen sagen: Gott liebt dich! Und wir dabei das Gegenüber nicht lieben. Die Leute spüren das.» Er meint, wir müssten sinnvolle Brücken bauen dort, wo die Menschen sind. Und: «Die Gemeinde ist der beste Ort für die Integration, weil wir uns als Geschwister sehen.» Wer Integration in unsere Kultur erlebt, fühlt sich heimisch, auch wenn Integration ein langer Prozess ist. Doch diese Integration geht nur durch gute Beziehungen. Wo freundschaftliche, respektvolle Beziehungen wachsen, kommt etwas von Gottes Liebe zum Ausdruck.

Du bist gefragt
In einer Gesellschaft, wo mehr als ein Drittel der Bevölkerung Migrationshintergrund hat, ermutige ich euch Jugi- und Teenie-Leitende: Gebt Jugendlichen mit Migrationshintergrund in euren Gruppen einen Platz, lasst sie teilhaben an euren Leben und an eurem Glauben. Sprecht, wo nötig hochdeutsch und einfache kurze Sätze mit ihnen persönlich, auch wenn das Programm auf Schweizerdeutsch läuft. Wählt jemanden aus, der neu Angekommenen respektvoll nahe ist, Dinge auf Hochdeutsch übersetzt, Sachen erklärt, per WhatsApp in Kontakt bleibt – am besten Jungs mit Jungen, Frauen mit Frauen. Findet mit der Zeit heraus, was die Neuen gut können und in eurer Gruppe beitragen wollen – oft ist dies im Zusammenhang von Gruppenbildung, für andere schauen, etc.  Yassir Eric sagte: «Die Stärken von uns Migranten: Beziehungen leben. Das können wir gut.» Und noch etwas: Lasst diese Jugendlichen, wie auch die anderen, an euren Leben ausserhalb des Jugi-Abends teilhaben. Zusammen Dinge am Sonntagnachmittag erleben, eingeladen werden, ein Jugi-WE oder ein Jugi-Camp zusammen verbringen, etc. Das alles fördert die Gemeinschaft. Und wo gute Gemeinschaft – ein Stück Familie – erlebt wird, fühlt sich jede und jeder wohl und heimisch – egal woher man kommt.

Rahel Strahm setzt sich mit
Leidenschaft ein für interkulturelle
Beziehungen. Privat aber
auch als Leiterin von ProCONNECT
bei SAM global.

Weiterführendes Material:

«Same but different» Kurs
«Gerechtigkeit auf der Flucht» Dokumentar Film zum Flüchtlings-Sonntag

[1] Mühlan Eberhard, «Zwei Welten – ein Team. Interkulturelle Kompetenz für Integrationshelfer, Berater, Teamleiter und Führungskräfte» Mühlan Medien, 201

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